Schönster Boulevard der Welt
Ringstraße
Boulevards gibt es in vielen Metropolen, aber dass einer um die gesamte Innenstadt führt, ist weltweit einmalig. Die Wiener Ringstraße tut es und ist in ihrer Pracht dabei nicht zu überbieten. Nirgendwo sonst auf der Welt findet man alle wichtigen Repräsentationsbauten einer Metropole, ja sogar eines Landes, entlang nur einer Straße. Der Ring, wie die Wiener die Ringstraße nennen, regiert die Stadt. Er ist mehr als nur ein Verkehrsweg, er bestimmt das Lebensgefühl in Wien. Die Ringstraße ist ein einzigartiger Straßenzug, voller Sehenswürdigkeiten und selbst eine einzige Attraktion.
Dass es die Ringstraße heute überhaupt gibt, ist dem städtebaulichen Mut von Kaiser Franz Joseph zu verdanken. Am 20. Dezember 1857 beteuerte er in einem Handschreiben, dessen Abdruck die Wiener am Weihnachtstag auf der ersten Seite der "Wiener Zeitung" lesen konnten, dass es sein Wille ist, die Basteien niederzureißen und die Glacis zu bebauen. Es war der Stein des Anstoßes für das größte städtebauliche Projekt seiner Zeit.
Diese Entscheidung war auch ein Sieg des Bürgertums, das sein Recht nach Integration ins gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben einforderte. Wer allerdings glaubt, dass der Kaiser dieser Gesellschaftsschicht damit ein Geschenk machen wollte, der irrt. Vielmehr hat Franz Joseph durch die Revolution von 1848 gelernt, dass die Stadtmauern auch zur Falle werden können. Seine Angst vor einer blutigen Revolution war groß.
Aufstieg zur modernen Metropole
Die Ausschreibung eines städtebaulichen Wettbewerbs brachte zwar trotz der kurzen Abgabefrist 85 Einreichungen aus dem In- und Ausland, doch keine davon vermochte zu überzeugen. So suchte man sich aus den Entwürfen jeweils die Bestandteile heraus, die man für gut befand und ergänzte sie um eigene Ideen.
Am 29. März 1858 begann man mit der Demolierung der Basteien. Der Abriss der Stadtmauern sollte das Zusammenwachsen der Stadt fördern, schließlich sollte Wien Weltstadt werden. Man öffnete so die Innere Stadt großzügige zu den Vororten hin und nutzte die einmalige Gelegenheit, eine moderne Stadt von neu auf zu erdenken. Bis zum Bau der Ringstraße war Wien strukturiert wie eine mittelalterliche Stadt. Innerhalb der Stadtmauern lebten Zehntausende auf engstem Raum. Dabei war Wien schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen mit Berlin, London und Paris eine der größten Städte Europas.
Direkt nach dem Schliff der Basteien begannen die Bauarbeiten auf der größten Baustelle Europas. Satte 1,5 Millionen Quadratmeter des Areals, das einst der Sicherheit der Stadt diente, waren für Parks, Plätze und Straßen reserviert. Auf 2,4 Millionen Quadratmetern sollten Gebäude entstehen.
Straße zum Schießen
Schon am 1. Mai 1858 wurde das erste Teilstück, der Franz-Josefs-Kai, eröffnet. Nicht jeder zählt den Kai zum klassischen Ring. Doch erst mit ihm ergibt sich eine 5,3 Kilometer lange Straße, die um das historische Wien herumführt. Ihr Bau veränderte das Stadtbild in kürzester Zeit völlig.
Der Bau der Ringstraße geschah gegen den Widerstand des Militärs, das die Glacis unbedingt beibehalten wollte und die schon länger diskutierte Stadterweiterung viele Jahre erfolgreich verzögerte. Auch beim Bau hatte das Militär einiges mitzureden. Es bestand zum Beispiel auf mächtige Kasernenbauten entlang der Ringstraße, die die Gefahr einer bürgerlichen und proletarischen Revolution bannen sollten.
Die enorme Breite der Straße von 57 Metern sollte unter anderem den Barrikadenbau erschweren sowie das einfache Verschieben der Truppen ermöglichen. Und auch dass die Ringstraße nicht rund ist, sondern ein Polygonzug mit geraden Schusstrecken, beweist bis heute die Angst vor dem revolutionären Potential der Vorstädte. Mit der Ringstraße wollte man das Volk eben auch in Schach halten.
Eröffnung inmitten von Bauarbeiten
Durch den Verkauf von Bauparzellen entlang der Ringstraße wurde der Bau der wichtigsten öffentlichen Monumentalgebäude finanziert. Der dafür gegründete Stadterweiterungsfond existiert noch heute, ist aber nicht mehr operativ tätig. Das städteplanerische Konzept mit abwechselnd öffentlichen und privaten Bauten war damals einzigartig. Die ausgeklügelte Finanzierung, der künstlerische Elan, die vorbildliche Organisation sowie die einheitliche und vorausschauende Planung waren die Erfolgsgaranten für eins der größten urbanen Vorhaben im 19. Jahrhundert.
Als Kaiser Franz Joseph am 1. Mai 1865 die Ringstraße im Beisein seiner Gattin Kaiserin Elisabeth offiziell eröffnete, war das ambitionierte Projekt bei Weitem nicht abgeschlossen. Die Staatsoper, damals Hofoper, befand sich gerade mitten im Bau. Es war das erste, aber nur eins von vielen Monumentalbauten am neuen Boulevard. 1.294.000 Gulden kostete die Errichtung der Ringstraße bis zur Eröffnung.
Gliederung der Ringstraße
Die Ringstraße gliedert sich ohne Berücksichtigung des Franz-Josefs-Kais in neun Abschnitte. Im Uhrzeigersinn bzw. in Fahrtrichtung des Individualverkehrs (die Straßenbahn verkehrt in beiden Fahrtrichtungen) sind es von der Urania bzw. der Aspernbrücke am Donaukanal ausgehend der Stubenring, der Parkring, der Schubertring, der Kärntner Ring, der Opernring, der Burgring, der Dr.-Karl-Renner-Ring, der Universitätsring und der Schottenring.Wien bot mit Baubeginn der Ringstraße nicht mehr nur der aristokratisch-höfischen Gesellschaft eine Bühne, sondern vor allem dem Großbürgertum. Es ließ sich an der Ringstraße nieder und machte damit eben auch seine Finanzierung möglich. Nicht zuletzt ihre schmucken Palais machten die Ringstraße zu einer gefragten Wohngegend. Das Bürgertum, unter ihnen ein großer Teil Juden, denen die Verfassung von 1867 volle Bürgerrechte zusicherte, setzte sich hier ein Denkmal.
Orgie des Historismus
Der Drang zur Modernisierung war groß, aber es fehlte ein moderner Stil. Man hoffte ihn durch die kreative Auseinandersetzung mit den Stilformen der Vergangenheit zu finden. Mit dem Historismus setzten die Architekten der Ringstraße, die besten ihrer Zeit, bürgerliche Akzente und versuchten nicht den Adel zu imitieren. Sie bedienten sich beispielsweise dem Barock, der Gotik und der Renaissance und schufen das mit Abstand bedeutendste Ensemble des Historismus in Europa.
Wien wurde zum Mekka der modernen Architektur. Mit zeitgemäßen Baustoffen wurden Häuser hochgezogen, deren Substanz noch heute Bestand hat. Theophil Hansen gilt mit seinen klassisch eleganten Bauten als der eigentliche Erfinder des Ringstraßenstils. Hinter den historisch anmutenden und zuweilen pompösen Fassaden verbarg sich ein modernes Inneres.
Zwar ist der Historismus als wichtiger Übergangsstil heute anerkannt, doch seine Kritiker bezeichnen die Ringstraße gern als Disneyland der Architektur. Der Prunk und Protz sei bloß billige Augenwischerei um über die machtpolitischen Schwächen des habsburgischen Reichs hinwegzutäuschen. Die Ringstraße sei substanzlos, nur eine bombastische Inszenierung. Sollte dies damals tatsächlich der Plan gewesen sein, dann ist er zumindest in voller Pracht aufgegangen.
Eins der bedeutendsten Palais am Ring ist das Palais Ephrussi, das durch Edmund de Waals Weltbestseller "Der Hase mit den Bernsteinaugen*" auch international ein Begriff ist. "Allerdings, diese Straße ist so ambitiös, dass einem die Luft wegbleibt.", schreibt der Autor in der lesenswerten Chronik seiner Familie, die das Palais bewohnte. Inmitten der Orgie des Historismus fällt die Österreichische Postsparkasse auf, die eins der wenigen dezidiert modernen Gebäude an der Ringstraße ist.
Der Bauboom beflügelte auch die Wirtschaft. Wie so häufig waren die Profiteure allerdings nur wenige, ohnehin schon gut betuchte wie der Ziegelbaron Heinrich Drasche. Auch in seiner Ziegelei am Stadtrand mussten tausende Arbeiter, vor allem aus Böhmen und Mähren, unter katastrophalen Arbeitsbedingungen schuften, damit die Ringstraße seine Besucher heute so verzaubern kann.
Ringstraße als Ort der Erholung
Das Großbürgertum, das mit dem Bau der Ringstraße auch symbolisch endlich die Macht ergriffen hatte, machte Wien auch zur Kultur- und Kunsthauptstadt. Am Ring wurden nicht nur unterschiedliche Lebensbereiche, sondern ebenso unterschiedliche Kunstformen vereint. Man bewunderte die Bildhauerei und Malerei, vergnügte sich im Konzert und im Theater.
Auch die Kaffeehäuser wurden von der großbürgerlichen Ringstraßengesellschaft gern besucht. In ihrer Hochblüte fand man an der Ringstraße 27 Cafés. Das erste war 1861 das Café Schwarzenberg. Im 1873 im Palais Lieben-Auspitz eröffneten Café Landtmann waren unter anderem Sigmund Freud und Gustav Mahler prominente Stammgäste. Das Café Prückel wurde 1903 sogar von einem Promi selbst eröffnet, dem früheren Radrenneuropameister Maxime Lurion. In allen dreien kann man sich auch heute noch nach Wiener Kaffeehauskultur bewirten lassen.
Von Anfang an geplant waren die Grünflächen am Ring, die den Wienern zur Erholung dienen sollten und es bis heute tun. Der Burggarten, der Stadtpark und der Volksgarten sind Oasen der Ruhe an der vielbefahrenen Ringstraße. 2.668 Bäume wurden entlang der Straße gepflanzt. Einzig der Architekt des Parlaments verbot sich die Bepflanzung. Daher ist es das einzige Gebäude der Ringstraße, dessen Fassade man auch im Sommer in voller Pracht bestaunen kann. Die Bepflanzung kostete allein 80.000 Gulden.
1891 wurde mit dem Kunsthistorischen Museum der letzte Monumentalbau der Ringstraße eröffnet. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden 850 Objekte entlang der Straße gebaut. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Ringstraßengebäude beschädigt, nicht wenige dem Erdboden gleichgemacht.
Die wichtigsten öffentlichen Ringstraßenbauten
- Burgtheater
- Ehemalige Börse
- Ehemaliges Kriegsministerium
- Hofburg
- Kunsthistorisches Museum Wien
- Naturhistorisches Museum Wien
- Österreichische Postsparkasse
- Österreichisches Museum für angewandte Kunst (MAK)
- Österreichisches Parlament
- Ringturm
- Universität Wien
- Urania
- Votivkirche
- Wiener Rathaus
- Wiener Staatsoper
Mehr als nur eine Hauptstraße
In seiner Geschichte hat die Wiener Ringstraße viel erlebt: Vom Ende der Donaumonarchie über den Ausruf der Ersten Republik, den Einmarsch Hitlers bis hin zum Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch die Ringstraße ist auch heute noch mehr als das größte Freilichtmuseum der Welt. Sie ist noch immer wichtigste Kulisse für politische Rituale und gesellschaftliche Manifestationen.
Die Ringstraße nur als Hauptstraße Wiens zu bezeichnen, wäre maßlos untertrieben. Sie ist ein urbanes Gesamtkunstwerk, das durch die Menschen zum Leben erweckt wird, die die Ringstraße nutzen. Als Begegnungs- und Bildungsstätte, als Ort der Demokratie, ob im Parlament oder auf einer Demonstration, als Einkaufsstraße, zur Erholung in den Cafés und Parkanlagen, als Flaniermeile, als Hauptverkehrsader, zum Kulturkonsum und Kunstgenuss, als Vergnügungshort bei Großveranstaltungen.