Marrakesch im Portrait
Märchenhafte Königsstadt voller Gegensätze
Nicht einmal vier Flugstunden von Deutschland entfernt liegt Marrakesch, die Perle des Orients, die dem Land seinen Namen gab. Vor der Kulisse des Atlas-Gebirges, das das ganzjährig angenehme Klima der Stadt maßgeblich prägt, offenbart sich eine geheimnisvolle und zugleich weltoffene Oase in der staubigen Wüste. Satte Farben, fremde Geräusche, ungekannte Gerüche und exotische Geschmäcker reizen die Sinne, die in Marrakesch so sehr beansprucht werden, wie in kaum einer anderen Metropole.
Die ehemalige Hauptstadt und Herrscherresidenz zählt neben Fès, Meknès und Rabat zu den vier Königsstädten Marokkos. Das quirlige Marrakesch verbindet den Traum vom Orient mit modernem Komfort. Zugleich ist Marokko so sicher und stabil wie keins seiner Nachbarländer, wenngleich auch hier schon der Terror zugeschlagen hat. Ausgerechnet am Djemaa el-Fna, dem Ort, an dem jeder Aufenthalt in Marrakesch beginnen muss, und an dem die meisten Tage enden.
Der Djemaa el-Fna ist der berühmteste Platz Afrikas. Ein Abenteuerspielplatz, der sich ab dem Nachmittag mit Leben füllt. Akrobaten und Gaukler, Märchenerzähler und Schlangenbeschwörer, Wahrsager und Wunderheiler – sie allen sorgen für eine Lebendigkeit, die den Platz weltberühmt gemacht hat. Hinzu kommen um die hundert transportablen Garküchen, die die rein optisch wenig attraktive Freifläche allabendlich in das größte Open-Air-Restaurant der Welt verwandeln. Ein Ort, der nicht nur Touristen anzieht, sondern auch das Wohnzimmer der Marrakchi, der Einwohner von Marrakesch, ist.
Medina wie aus Tausendundeiner Nacht
Der Djemaa el-Fna ist die Herzkammer der Medina, die die Menschenströme kontinuierlich in die schmalen Gassen der Altstadt pumpt. Diese faszinierende und mit 600 Hektar riesige Medina ist es auch, die jedes Jahr Millionen Touristen anzieht. Ihren Ursprung nahm sie im 11. Jahrhundert als Zeltstadt verschiedener Berberstämme. Umgeben ist die Altstadt von einer 19 Kilometer langen Stadtmauer, auf der zahlreiche Störche nisten. Das Bab Agnaou ist das schönste aller Stadttore, die den Zugang zu dieser einzigartigen Fußgängerzone freigeben.
Europäer stoppten den Verfall der Medina, indem sie um die Jahrhundertwende damit begangen, erste Riads zu kaufen und zu restaurieren. Jene für die Altstadt typischen, nach innen gekehrten Häuser, die sich meist über zwei Etagen erstrecken. Sie haben keine Fenster nach außen, aber dafür einen Innenhof mit Brunnen, eine Galerie und eine Dachterrasse. Orte der Ruhe im hektischen Zentrum.
Viele der Riads wurden zu Gästehäusern, in denen die berühmte marokkanische Gastfreundschaft gelebt wird, an dessen Beginn immer das obligatorische Glas mit zuckersüßem Minztee steht. Manche der typischen Altstadthäuser strotzen nur so vor Luxus, aber in viele kann man sich auch verhältnismäßig günstig einquartieren. Echte Marrakesch-Kenner ziehen ein Riad jedem noch so zeitgenössischen Hotelbau vor.
Mittelalterliches Handwerk neben Luxusvillen
Bei einem aufmerksamen Streifzug durch die Medina, in der die Hälfte der fast eine Millionen Stadtbewohner lebt, findet man sie noch, die alteingesessen Handwerker, die ihre Arbeiten auf engstem Raum in so mittelalterlicher Weise verrichten, wie es hierzulande nur noch in Freilichtmuseen zu bestaunen ist. Die Färber beispielsweise, die ohne Handschuhe und Mundschutz arbeiten, oder die Gerber, die aus rohen Tierhäuten Leder machen und es auf den Dächern der Medina trocknen lassen. Auch die Karawansereien, in denen die Karawanen auf halber Strecke zwischen Atlantik und Sahara früher ihr Nachtquartier aufschlugen, kann man noch identifizieren.
Wer die legendäre Medina von Marrakesch wirklich erleben will, der muss bereit sein, sich in ihr zu verlieren. Wer sich durch die Altstadt treiben lässt, der wird zwangsläufig auch in die Souks gelangen. Die traditionellen, zusammenhängenden Märkte, die nach Handelszweigen und Warenangebot gegliedert sind. Hier gibt es nicht nur duftende Gewürze und ausgetriebene Kupferwaren, sondern auch all das, was die Einwohner selbst zum Leben benötigen. Und so reihen sich an die zahllosen Souvenirläden auch allerlei Fachgeschäfte mit ihrem Spezialsortiment. Die Souks von Marrakesch sind landeweit die größten. Sie beginnen nördlich des Djemaa el-Fna und führen hinauf bis zur Medersa Ben Youssef, einer ehemaligen Koranschule, die zu den schönsten Sehenswürdigkeiten der Metropole zählt.
Wer sich in der Medina verlaufen hat, der hält einfach Ausschau nach der Koutoubia-Moschee, dessen 77 Meter hohes Minarett über der Altstadt thront, aufgrund der engen Gassen aber meistens dennoch nicht zu sehen ist. Die Moschee ist das Wahrzeichen von Marrakesch und der Legende nach der Grund, warum sie auch "Rote Stadt" genannt wird. Bei ihrem Bau im 12. Jahrhundert sollen die Marrakchi so viel Blut gelassen haben, dass es die Häuser der Altstadt rot färbte. Die Koutoubia-Moschee ist nur eine von vielen sehenswerten Moscheen in Marrakesch. Zu Schade, dass nur Muslime all diese betreten dürfen.
Orientalische Atmosphäre als Hauptattraktion
Für jedermann zugänglich hingegen ist der Palais de la Bahia im Süden der Altstadt. Der großzügige Wesirspalast aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ein Sinnbild der andalusisch-maurischen Architektur, wie man sie in gesamten Stadtgebiet findet, aber nirgendwo so prunkvoll wie hier. Streng symmetrische Hallen, Höfe und Zimmer, Sichtachsen, die die Räume gliedern, sowie das Spiel mit den Elementen Licht und Wasser sind nur einige charakteristische Bestandteile der orientalischen Palastarchitektur.
Am eindrucksvollsten zeigt sich Marrakesch, wenn die Sonne beginnt unter zu gehen und sich die Plätze und Straßen der Medina mit Leben füllen. Der Dunst der Essensstände steigt auf und mischt sich mit den unsichtbaren Schallwellen des Marktgeschreis, des Mopedgekannters, des Storchengeklappers und der Rufe der Muezzins. Ja, genau so stellt man sich diese Stadt vor. Goldenes Licht, von verspielter Ornamentik geprägte Architektur und orientalisch-tönendes Treiben, wohin das Auge blickt.
Mit seiner einmaligen Atmosphäre, die die eigentliche Hauptattraktion der Stadt ist, hat Marrakesch schon früh Individualisten aus aller Welt angelockt. In den 1960er-Jahren entwickelte es sich zum einem populären Reiseziel für Hippies. Sie nannten Marrakesch die "Stadt der vier Farben": Blau für den Himmel, Grün für die Palmenhaine am Stadtrand, Rot für die mittelalterliche Befestigungsanlage und die Häuser, die sie umgibt, sowie Weiß für die schneebedeckten Berggipfel in der Ferne. Neben der exotischen Kultur war es vor allem das reihhaltige Angebot an Marihuana, das die Blumenkinder anlockte. Noch heute ist Marokko einer der weltgrößten Produzenten der Droge.
Anziehungspunkt für Hippies, Künstler und Prominenz
Angezogen von Marrakesch fühlten sich auch die Künstler, von denen ganze Generationen sich in ihren Bann haben ziehen lassen. Nicht wenige fanden hier auch den Weg zum Islam. Heute wirkt Marrakesch wie der Gegenentwurf zur konservativen Religion, die in Marokko gelebt wird. Eine freizügige Partydestination, dessen Exzesse für die gläubigen Einheimischen eine einzige Sünde sind. Alkohol und nackte Haut sind nicht vereinbar mit dem Islam. Und dennoch wirbt das relativ liberale Marrakesch mit dem Segen des Königs um feierwütige Touristen, die gutes Geld in der Stadt lassen.
Die Prominenz, die sich vom Kontrast zwischen orientalischer Tradition und moderner Lebensart genauso angezogen fühlt, feiert freilich unsichtbar hinter den fensterlosen Mauern ihrer stilvoll sanierten Altstadtvillen. Die meisten aber suchen die Ruhe. Naomi Campbell, Madonna, Mick Jagger und viele weitere haben Anwesen in Marrakesch. Regelrecht verliebt in das Saint-Tropez des Südens hat sich der französische Modedesigner Yves Saint Laurent, der hier eine zweite Heimat fand.
Ihm hat die Stadt den Fortbestand des Jardin Majorelle zu verdanken. Ein botanischer Garten, durch den verschlungene Wege vorbei an unendlich vielen Kakteenarten im Schatten einer blau getünchten Villa führen. Obwohl eine der Hauptattraktionen von Marrakesch, ist der Jardin Majorelle zugleich ein unvergleichlicher Ort der Stille, in dem man nicht mal ein urbanes Rauschen vernehmen kann. Yves Saint Laurent und sein Lebensgefährte Pierre Bergé kauften die verwilderte Anlage 1980 und ließen sie wieder herrichten. Der berühmte Modeschöpfer, der in Paris verstarb, ließ hier sogar seine Asche verstreuen.
Zwischen Tradition und Moderne
Der Jardin Majorelle ist eine der wenigen Sehenswürdigkeiten außerhalb der Medina. Trotzdem lohnt es sich, die Altstadt auch mal zu verlassen. Die um 1920 von den französischen Protektoraten angelegte Neustadt war der erste Stadtteil, der außerhalb der Stadtmauern entstand. Hier zeigt sich Marrakesch von seiner modernen Seite und lockt mit schicken Boutiquen, hippen Clubs und teuren Restaurants. Ein Anziehungspunkt auch für die jungen Marokkaner, die hin- und hergerissen sind zwischen ihrer islamischen Tradition und dem westlichen Lebensstil. Die Hälfte der Landesbevölkerung ist unter 25 Jahre alt.
Egal ob jung oder alt: Wer genug hat vom Gassenbummel in der zum Weltkulturerbe erklärten Medina, vom Budenballett auf dem großen Platz, von den ständigen Verkaufsofferten, dem unverzichtbaren Feilschen oder gewöhnungsbedürftigen Kamelreiten, der sollte sich in ein Hamam begeben. Auch wenn die meisten Marrakchi heute eigene Bäder besitzen, ist der Besuch des arabischen Badehauses noch immer ein festes Ritual. Neben den klassischen Hamams der einzelnen Viertel gibt es mittlerweile viele Luxusvarianten, auch in Hotels. Touristen sollten ihre Scheu ablegen und Berührungsängste überwinden, um sich dort einmal ordentlich durchwalken und mit der schwarzen Olivenseife abschrubben zu lassen. Ein einmaliges Erlebnis!
Wer sich auf die nicht immer einfache Stadt der Berber und Nomaden einlässt, der erlebt eine Metropole in der Mythen gepflegt werden, in der es aber trotz allem Kommerz und Touristennepp noch immer die magischen Momente aus Tausendundeiner Nacht gibt. Eine Stadt, in der Gauklertum auf Glamour trifft. Eine Destination mit ausgedehnten Gärten, kulinarischen Köstlichkeiten, bunten Märkten und prachtvollen Palästen. "Wenn du nur einen Tag in Marokko hast, dann verbringe ihn in Marrakesch.", besagt ein altes Sprichwort. Und weiter: "Hast du nur eine Stunde in Marrakesch, dann verbringe sie auf dem Djemaa el-Fna." Denn ohne diesen alles bestimmenden Platz wäre Marrakesch nur eine weitere marokkanische Stadt, so der Komponist und Schriftsteller Paul Bowles.