Podgórze
"Krakau reicht weiter als bis zur Weichsel." Mit diesem vollkommen richtigen Satz wirbt der südlich des Flusses gelegene Bezirk Podgórze. Über eine der Brücken ist man schneller da, als man zu glauben wagt. Noch sind die Mieten hier günstig, was beispielsweise Studierende zu schätzen wissen. Doch die Nähe von Podgórze zum Zentrum sorgt für einen langsamen aber stetigen Wandel. Immer öfter sieht man zwischen den zumindest äußerlich gealterten Häusern neue Fassaden blitzen. Podgórze ist Gentrifizierungskandidat.
Touristen, die heute kommen, kommen vor allem auf der Suche nach Überresten des Krakauer Ghettos. Das jüdische Wohnviertel wurde ab dem 3. März 1941 auf Befehl von Generalgouverneur Hans Frank im südlich der Weichsel gelegenen Stadtbezirk Podgórze errichtet. Bis zum 20. März 1941 mussten alle jüdischen Bewohner der Stadt ins etwa 20 Hektar große Ghetto umgezogen sein. Die Juden mussten Kazimierz verlassen, die nichtjüdischen Bewohner, die dort lebten, wo das Ghetto entstand, zogen in das jüdische Viertel.
Wo vorher gerade einmal 3.000 Menschen lebten, wurden nun 15.000 bis 17.000 Personen zusammengepfercht, zur Spitzenzeit sogar 20.000. Das Ghetto umfasste 320 Häuser mit genau 3.167 Zimmern. Jedem Bewohner wurden im Schnitt nur zwei Quadratmeter zugestanden. Die Zimmer waren so dicht belegt, dass in der Regel kein Platz mehr für Möbel war.
Vom einstigen Ghetto ist kaum noch etwas zu sehen
Das Judenghetto wurde von einer steinernen Mauer umgeben, die zynischerweise die Form jüdischer Grabsteine hatte. Möglicherweise wurden sogar Grabsteine von geschändeten Friedhöfen zum Bau der Mauer verwendet. Zwei erhaltene Mauerfragmente befinden sich in der ulica Lwowska (in unmittelbarer Nähe zur Kreuzung mit der ulica Jana Henryka D ąbrowskiego und ulica Józefińska) sowie hinter dem Schulgebäude an der Kreuzung der ulica Bolesława Limanowskiego und der ulica Rękawka.
Nach zwei Umsiedlungsaktionen in das Vernichtungslager Belzec wurde das Ghetto im Dezember 1942 in zwei Bereiche aufgeteilt. Ins Ghetto A kamen die arbeitsfähigen Juden. Sie wurden in den umliegenden Industriebetrieben beschäftig, beispielsweise in der Emailwarenfabrik von Oskar Schindler. Ins Ghetto B kamen die Alten, Kinder und Kranken. Teil B war der deutlich größere.
Die Teilung war eine Vorbereitung für die endgültige Liquidation im darauffolgenden Jahr. Am 13. und 14. März 1943 wurden vom Zgody-Platz, dem heutigen Platz der Helden des Ghettos, etwa 4.000 Menschen deportiert. Die Arbeitsfähigen kamen ins nur einen Kilometer entfernte Konzentrationslager Plaszow, die Arbeitsunfähigen ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Über 1.000 Ghettobewohner wurden an diesen beiden Tagen gleich im Ghetto ermordet. So zum Beispiel die Kranken im jüdischen Hospital in der ulica Józefińska, die in ihren Betten liegend erschossen wurden. Auch alle Juden, die sich versteckten, wurden bei einer abschließenden Kontrolle aller Häuser getötet.
"Schindlers Liste" bringt bis heute Touristen nach Podgórze
Mit seinem 1993 erschienenen Film "Schindlers Liste*" machte Steven Spielberg die Geschichte des Krakauer Ghettos auch einem jüngeren Publikum weltweit bekannt. Gedreht wurde der mit sieben Oscars gewürdigte Film zu großen Teilen an Originalschauplätzen in Krakau. Die Szenen, die im Ghetto spielen, wurden allerdings im jüdischen Viertel Kazimierz auf der anderen Weichselseite aufgenommen. Einige Stadtführer bieten Touren zu den Drehorten an.
Auch wenn "Der Pianist*" weder in Krakau spielt, noch dort gedreht wurde, verdeutlicht der Film von Roman Polański die damalige Situation im Ghetto noch deutlicher als Spielbergs Werk. Der polnische Regisseur musste als Kind selbst im Krakauer Ghetto leben und überlebte nur, weil ihm am ersten Tag der Auflösung die Flucht gelang. In seinem ebenfalls mehrfach oscarprämierten Holocaustfilm über den im Warschauer Ghetto lebenden Pianisten Władysław Szpilman ließ Polański eigene Erfahrungen aus seiner Ghettozeit einfließen.
Trotz der bekannten und bedeutsamen Vergangenheit wird man dem heutigen Podgórze selbstverständlich nicht gerecht, wenn man den aufstrebenden Bezirk auf seine Geschichte als Standort des Ghettos reduziert. Nicht zuletzt die Studierenden sorgen für ein vielfältiges Gastronomieangebot und ein lebendiges Nachtleben. Ausgangspunkt für letzteres ist häufig der dreieckige Markplatz von Podgórze, an dessen Spitze die Kirche St. Joseph (pl. Kościół św. Józefa) steht.
Weit mehr als nur ehemaliger Ghettostandort
Natürlich gibt es auch Sehenswürdigkeiten, die nicht in Zusammenhang mit der NS-Zeit stehen. Unweit der Überreste der Ghettomauer steht zum Beispiel die Wandmalerei "Silva Rerum", andere bezeichnen sie auch als Graffiti. Anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums haben mehrere Künstler auf einer Länge von knapp 100 Metern die Krakauer Stadtgeschichte visualisiert - begonnen von König Krak bis zu Johannes Paul II. Im Entstehungsjahr 2007 galt das Wandgemälde als längstes Graffiti der Welt. Als "Silva Rerum" ("Wald der Dinge") wurden in Polen dicke Bücher bezeichnet, in denen die Familienchronik über zahlreiche Generationen niedergeschrieben war.
Hinter der bemalten Wand, die ungünstigerweise an einer mehrspurigen Hauptverkehrsstraße liegt, steht die Festung St. Benedikt (pl. Fort św. Benedykta). Sie wurde von 1853 bis 1861 erbaut und hat mit Feliks Księźarski den gleichen Architekten wie das Collegium Novum der Jagiellonen-Universität. Ihren Namen hat die Festung von der kleinen Kirche, die wenige Schritte nördlich liegt und eine der ältesten in Krakau ist. Im Ersten Weltkrieg kämpften die Soldaten der Habsburger von hier gegen die Soldaten der Zaren. Im Zweiten Weltkrieg hielten die Deutschen hier Franzosen gefangen. Bis in die 1980er-Jahre hinein wurde die Festung als Wohnhaus genutzt.
Wer vom Park, in dem die Festung heute steht, die Fußgängerbrücke über die Gleise und Straßen Richtung Süden nimmt, von der man das "Silva Rerum" übrigens am besten sieht, der gelangt schon bald zum Kopiec Krakusa, einem der vier Krakauer Hügel. Weiter südlich davon folgt der große Friedhof von Podgórze, an dessen südlichem Ende wiederrum das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Plaszow beginnt.
Die noch erhaltene Fabrik von Oskar Schindler wurde 2005 von der Stadt Krakau gekauft. Im Verwaltungsgebäude befindet sich ein Museum, das sich mit Krakau zur Zeit der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 auseinandersetzt. Aus der Fabrikhalle wurde das Museum of Contemporary Art in Krakow (MOCAK), das zeitgenössische Kunst zeigt. Beide Museen sind bedeutende Attraktionen in Podgórze.