Christiania
Es war der 4. September 1971, als Bewohner des Stadtteils Christianshavn ein Loch in den Zaun zum angrenzenden, verlassenen und nur sporadisch bewachten Militärgelände schnitte. Sie wollten ihren Kindern damit einen vom Straßenverkehr geschützten Spielplatz schaffen. Dass dieses kleine Loch im Zaun einmal der Auslöser für die Gründung der weltweit wohl bekanntesten Kommune werden würde, ahnte damals noch niemand.
Zunächst waren es nur einige wenige Obdachlose, die die leerstehenden Kasernen als Unterschlupf nutzten. Doch nachdem der Zugang geschaffen wurde, kamen immer mehr Anarchisten, Hippies und Künstler um die Häuser zu besetzen. Sie erklärten das Areal zum Freistaat mit eigenen Gesetzen. Hier wollten sie ihre alternative Lebensweise fernab von staatlicher Einflussnahme und Regulierung praktizieren. Offen für alle. Anarchismus, Antikapitalismus, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung waren und sind die Parolen Christianias.
90.000 Quadratmeter pure Freiheit
Weil die Besetzer in einem Depot große Mengen gelber und roter Farbe fanden, malten sie daraus ihre eigene Flagge: drei gelbe Punkte auf rotem Grund. Je nach Interpretation repräsentieren die drei Kreise die "i"-Punkte in "Christiania" oder stehen für Frieden, Harmonie und Liebe. Schnell wurde die Flagge zum Symbol für den selbstausgerufenen Freistaat Christiania.
Die anfänglichen Versuche des Staates das 90.000 Quadratmeter große Gelände zu räumen scheiterten. Über die Jahre erwarben sich die Christianiter ein teils gewohnheitsrechtlich verfestigtes, teils aber auch schriftlich fixiertes Nutzungsrecht, das mit Autonomie und Unabhängigkeit einherging. Seitdem die Bewohner von Christiania auch für Müllentsorgung, Strom und Wasser zahlen, sind weitere Reibungspunkte weggefallen. Doch ein gravierender existiert bis heute: der Drogenkonsum.
Zwar sind gemäß den selbst aufgestellten Regeln "harte" Drogen verboten, doch Haschisch und Marihuana sind allgegenwärtig. Die aus Cannabis gewonnenen Rauschmittel werden hier nicht nur fröhlich konsumiert, sondern an jeder Ecke so selbstverständlich verkauft wie andernorts Gemüse und Milch. Insbesondere rund um die Pusher Street, die Hauptstraße Christianias, floriert der Drogenhandel. Zweistellige Millionenbeträge werden hier jedes Jahr umgesetzt. Lange vorbei die Zeiten, als die Späthippies lediglich Ernteüberschüsse aus dem eigenen Vorgarten zum Selbstkostenpreis anboten. Heute sollen sich hinter den Dealern eiskalt kalkulierende Rockerbanden befinden, die mafiöse Strukturen aufweisen.
Erkaufte Anarchie
2004 wollte die konservativ-liberale Regierung dem nicht weiter zuschauen. Sie kündigten an die Häuser in Christiania abzureisen und das Gelände in attraktiver Lage zu verkaufen. Schätzungen gehen davon aus, dass es mehrere hundert Millionen Euro wert ist. Doch die Christianiter beanspruchten Gewohnheitsrecht für ihren Freistaat. Sie leiteten einen Prozess ein, der im Februar 2011 letztinstanzlich mit einer Niederlage endete. Das höchste dänische Gericht stellte fest, dass der Staat das alleinige juristische Bestimmungs- und Eigentumsrecht am ehemaligen Militärgelände nie verloren hat, auch wenn es durch die Christianiter seit Jahrzehnten autonom genutzt wird.
Den über 800 Bewohnern Christianias wurde ein Ultimatum gestellt: Entweder sie erwerben das Gelände zu einem Vorzugspreis weit unter Wert oder der Staat macht von seinem Recht Gebrauch und lässt die Fläche räumen, die Häuser abreisen, parzelliert das Areal und verkauft die Grundstücke an Investoren. Die Christianiter sperrten ihren selbsternannten Freistaat ab und zogen sich zur Beratung zurück. Die geschlossenen Tore sollten gleich zeigen, was Kopenhagen ohne Christiania wäre. Immerhin ist die Kommune eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt und zieht jedes Jahr über eine Millionen Besucher an. Angesichts enttäuschter Touristen forderten konservative Politiker paradoxerweise auch gleich wieder die Öffnung Christianias.
Dabei ist das Verhältnis der Christianiter zu Touristen durchaus zwiegespalten. Zwar wollen sie sich nicht wie Affen im Zoo begaffen lassen, doch auf der anderen Seite hat sie ihr Status als Touristenattraktion jahrzehntelang vor gewaltsamer Räumung durch den Staat geschützt. Außerdem sind Touristen eine wichtige Einnahmequelle. Deshalb werden sie gerne akzeptiert, zumindest so lange sie sich an die Regeln halten.
Gemeinschaftlich entschied man das Angebot des Staates anzunehmen und das Gelände für umgerechnet 20 Millionen Euro zu kaufen. Damit war zwar die jahrelange Ungewissheit über den Fortbestand Christianias vorbei, doch nun musste die Finanzierung gestemmt werden. So bunt die aus Akademikern, Arbeitslosen, Immigranten, Intellektuellen, Künstlern, Querdenkern, Rentnern und Studenten bestehende Einwohnerschaft auch ist, große Kapitalanlagen hortet niemand von ihnen. Durch Spenden und die Auflage einer Volksaktie ist es ihnen dennoch gelungen den Kaufpreis aufzubringen. Letztere freilich ist auch nichts weiter als eine bessere Spendenbescheinigung, weil die Aktie natürlich keine Besitzansprüche, keine Dividende und kein Mitspracherecht verspricht.
Fotografieren verboten
Zu den wichtigsten Regeln von Christiania gehören die Verbote von Diebesgut, Gewalt, "harten" Drogen, Kraftfahrzeugen, kugelsicherer Kleidung und Waffen. Touristen sollten sich an das Fotografierverbot halten, auf das durch zahlreiche Verbotsschilder hinreichend hingewiesen wird. Es gilt vornehmlich rund um die Pusher Street. Nur ungern lassen sich hier Drogenhändler und ihre Kunden ablichten. Auf dem Rest des Geländes ist fotografieren erlaubt, solange man die übliche Zurückhaltung beim Ablichten von Personen einhält. Warnen, so wie Reiseführer dies in den 1980er-Jahren noch taten, muss man vor dem Betreten Christianias aber heute nicht mehr.
Neben der allgemein total entspannten Atmosphäre sind die von vielen Bewohnern selbstgebauten Häuser ein echtes Erlebnis. Umgeben von viel Grün stehen Bauwerke, die niemals auf eine Baugenehmigung warten mussten und entsprechend experimentell oder fantasievoll daherkommen. Voller Kreativität werden zum Bau alte Materialien wiederverwendet, die im übrigen Kopenhagen wohl nur auf dem Müll gelandet wären.
Die handwerklich begaben Christianiter jedoch verstehen daraus neues und teilweise kunstvolles zu schaffen. Dabei wissen alle genau, dass es nicht ihr privater Besitz ist und auch niemals wird. Sie leben in ihren Häusern so lange sie wollen, dann kommt jemand anderes. Miete, Steuern oder ähnliches werden in Christiania nicht fällig, dafür zahlt jeder Erwachsene monatlich einen festen Betrag in einen Fond, aus dem sich das Aussteigerparadies finanziert. Eine Ordnungsmacht wie die Polizei wird davon aber nicht unterhalten.