Ankunft in einer anderen Welt
Meine ersten vier Stunden in Marrakesch
Das Flugzeug hebt ab und der Kapitän verkündet eine überpünktliche Landung am Menara Aiport in Marrakesch, der seinen Namen vom gleichnamigen Garten ganz in der Nähe hat. Einen Transfer habe ich bereits von zu Hause gebucht und so kann nichts mehr schiefgehen. Entspannt betrachte ich von meinem Fensterplatz aus den Wechsel der Landschaften und knips eifrig Paris und später die Straße von Gibraltar. Kaum mehr als drei Stunden, nachdem ich das kühle und trübe Deutschland verlassen habe, setze ich meine Füße erstmals auf afrikanischen Boden.
Vom Rollfeld geht es direkt zur Passkontrolle, vor der sich aber bereits eine lange Schlange bildete. Also heißt es zunächst warten. Lustlos prüft der im Glaskasten sitzende Beamte mein Einreiseformular und drückt mir mit voller Wucht einen Stempel in den Reisepass. Marokko heißt mich herzlich willkommen.
Mein Koffer dürfte schon die eine oder andere Runde auf dem Kofferband gedreht haben, denn die Wartezeit betrug fast eine Stunde, weil ich einer der letzten in der Schlange war. Schnell noch zum Geldautomaten und dann in die relativ leere Flughafenhalle. Dort sehe ich niemanden, der auf mich wartet, doch draußen hält ein Mann mittleren Alters ausdauernd das Schild mit meinem Namen vor seine Brust. Ich entschuldige mich dafür, dass er so lange warten musste, und folge ihm zum Auto.
Weil ich ein Riad in der Medina gebucht habe, kann mich mein Chauffeur nicht bis unmittelbar vor die Unterkunft fahren. In Marrakesch ist es deshalb üblich, dass der Fahrer dort anruft und einen Treffpunkt vereinbart, wo der Kunde wie Lösegeld übergeben wird. Leider stimmt die Rufnummer, die das Buchungsportal auf seine Bestätigung geschrieben hat, nicht, doch nach ein paar Minuten herumtelefonieren hat der Fahrer sein Ziel erreicht. Ich blicke derweil erwartungsvoll aus dem Fenster und betrachte die fremde Welt.
Einen Tag bevor ich in Marrakesch gelandet bin, ging der zweiwöchige UN-Klimagipfel zu Ende. Die Straßen sind deshalb noch immer von unendlich vielen Bannern und Fahnen gesäumt. Irgendwann fahren wir durch das erste Tor in einer Mauer, dann durch noch eins und wieder eins. Ich frage mich jedes Mal, ob ich bereits in der berühmten Altstadt bin, die von einer 19 Kilometer langen Stadtmauer umgeben wird. Doch wie ich heute weiß, waren das vor allem Palastmauern.
Langsam werden die breiten Straßen zu engen Gassen, plötzlich tauchen immer mehr Esel samt Anhang auf. Das muss sie sein, die Medina. Unter ständigem hupen und angehupt werden bahnt sich mein Taxi den Weg ins Innere des Labyrinths. Wir erreichen einen kleinen Platz. Mein Fahrer dreht, sucht mit den Augen, entdeckt eine junge Frau und gibt mich sicher in ihre Hände. Ich bedanke mich mit einem großzügigen Trinkgeld – in Euro, weil der Automat nur große Scheine ausgespuckt hat.
Mit meinem Rollkoffer folge ich der eher westlich anmutenden Damen durch Gassen die so schmal sind, dass allenfalls noch ein Roller hindurchpasst. Wir biegen alle paar Schritte ab. Rechts, links, links, rechts, Achtung: Kopf einziehen, rechts, links, Achtung: Kopf einziehen, links, rechts und so weiter. Wie soll ich hier jemals wieder hinfinden? Zumal die fensterlosen, Mauer an Mauer stehenden und Ton in Ton gestrichenen Häuser von außen auch noch alle gleich aussehen. Straßennahmen: Fehlanzeigen. Hausnummern: selten.
Wir stehen vor einer schwarzen mit Kupfernieten verzierten Holztür. Dahinter offenbart sich ein typisches Riad mit hellem Innenhof, in dessen Mitte sich ein Wasserbecken befindet. Ringsherum sind verschiedene Sitzgelegenheiten angeordnet. Es gibt zwei Stockwerke und mehrere Dachterrassen, von denen man auf einen Wald von Satellitenschüsseln und diverse Minarette blickt.
Das Riad, in dem ich nun eine Woche nächtigen werde, hat übrigens keinen Fernseher auf dem Zimmer. Der ist in den typischen Altstadthäusern, von denen mittlerweile über 1.000 zu Gästehäusern umfunktioniert wurden, verpönt. Früher haben hier die Generationen unter einem Dach gelebt. Es gibt keine Fenster nach außen, nur zum Innenhof hin. Und das macht die Riads zu Oasen der Ruhe im lauten und hektischen Treiben der Medina. Wobei Ruhe relativ ist, denn was drinnen passiert hört man durch den Innenhof ganz gut.
Nachdem ich mich frisch gemacht habe, will ich zur Hauptattraktion von Marrakesch: dem Djemaa el-Fna. Schließlich habe ich mein Riad so ausgewählt, dass dieser einmalige Platz fußläufig schnell erreichbar ist. Doch um dorthin zu gelangen musste ich, wie mir die Frau des Inhabers kurz vor dem Abbiegen in die letzte Gasse beiläufig signalisierte, in die entgegengesetzte Richtung, aus der ich eigentlich kam. Wo ich den nun abbiegen soll, wusste ich natürlich nicht und haben mich nach nur einer Minute verlaufen.
Aus dem einfach mal ausprobieren wurde nichts, denn schon bot ein junger Mann mit dem Hinweis auf den großen Platz seine Hilfe an. Da war er also, der erste ungebetene Guide, der bestimmt ein riesen Trinkgeld verlangt, weil er mir aus dem Gassenwirrwarr der Medina geholten hat. Man liest ja im Vorfeld so einiges. Nun, dieser war weniger aufdringlich als gedacht, hieß mich herzlich willkommen und verschwand nach einem Tipp, ohne die Hand aufzuhalten. Das allerdings war eine rühmliche Ausnahme.
Nachdem ich unter einem steinernen Torbogen hindurchschritt, war ich plötzlich mitten im Gewusel. Ich war auf einem Hauptweg durch die Souks, durch den sich die Menschenmassen schoben. Von allen Seiten sprachen mich Menschen an. Sie sagen mir, dass es in die Richtung zum Platz geht. Riefen „Hello, brother!“ und versuchten mich in ihre Geschäfte mit Gewürzen, Lederwaren und allem, was man sich sonst noch vorstellen kann, zu locken. Es war eng, laut und warm. Ich wusste gar nicht, wo ich hingucken sollte.
Nach ein paar Metern mündet die Straße tatsächlich auf den Djemaa el-Fna, der sich so lebendig zeigt, wie ich es zu Hause in den Dokumentationen gesehen habe. Es ist bereits später Nachmittag und die Garküchen sind aufgebaut. Rauchschwaden steigen in den Himmel auf. Das größte Freiluftrestaurant der Welt bitte zu Tisch. Es gibt Lammkopf und Schnecken in Gewürzsud, aber auch frittierten Fisch und gegrillte Fleischspieße. Die Zutaten liegen hübsch drapiert aber ungekühlt für jeden sichtbar parat. Vor den durchnummerierten Ständen versuchen Männer die staunenden Touristen zum Platznehmen zu bewegen.
Ich weiche immer wieder den mobilen Patisserien aus, die auf einem großen Holzbrett mit zwei Reifen eine bunte Vielfalt an Gebäck durch die Gänge zwischen den Garküchen schieben. Eine Schachtel kostet 50 Dirham, umgerechnet fünf Euro. Kaum wende ich mich den Essensständen ab, rufen mich die ebenfalls dicht an dicht stehenden Saftverkäufer herbei. Ein Glas frisch gepresster Orangensaft kostet 40 Cent.
Es mag an meiner deutschen, zurückhaltenden Art liegen, dass ich mich von Ständen, die besonders aufdringlich um mich werben, umso schneller abwende. Ich habe das Gefühl mich nicht in Ruhe umsehen zu können. Sobald mein Blick bei einem Stand für zwei Sekunden verharrt, beginnt die Promotion. Dankende Ablehnung wird nicht akzeptiert.
Es ist Samstagabend und der Djemaa el-Fna platzt aus allen Nähten. Wo keine Garküchen stehen haben sich Akrobaten und Gaukler, Musiker und Tänzer niedergelassen. Frauen irren umher und bieten jedem, den nach Tourist aussieht, Henna-Tattoos an. Wunderheiler verkaufen allerlei Mittelchen, Schlangenbeschwörer sorgen für ordentlichen Krach. Kinder betteln oder verkaufen Tempo-Taschentücher. Aus dünnstem Metall hergestellte Laternen für selten mehr als fünf Euro erhellen den Boden. Immer wieder werden Uhren und Zigaretten von fliegenden Händler feilgeboten.
Um die Märchenerzähler haben sich große Menschkreise gebildet. Ebenso um zwei Kinder die mit Boxhandschuhen bestück darauf warten aufeinander loszugehen. Vorher aber wird ein Korb rumgereicht um Geld einzusammeln. Ich betrachte die Szenerie. Wenige Augenblicke später stellt sich ein Mann zu mir, erzählt er sei zur Hochzeit seiner Schwester nach Marrakesch gekommen. Er wirkt nett und wir plaudern ein wenig auf Englisch. Als Imam unterrichte er Kinder. Deutschland sei ein tolles Land. Nach einigen Minuten will ich mich verabschieden, da zückt er einen Zettel und beginnt die englische Übersetzung neben arabische Wörter wie Danke und Tschüss zu schreiben. Dieser Zettel soll mir die kommende Woche erleichtern. Er drückt in mir in die Hand und verlangt einen Obolus. Ich gebe ihn zurück und lehne ab.
Mir scheint, als würde hier niemand etwas einfach so tun. Hinter allem steht der Wunsch nach Geld. Vielleicht sollte das keine große Überraschung sein, wenn man in ein deutlich ärmeres Land reist. Es nervt dennoch. Vor allem, wenn man eben erst angekommen ist. Zudem führen Begegnungen wie die letztgeschilderte dazu, dass man sich als Tourist einen Panzer zulegt. Selbst freundlich gemeinte Kontaktaufnahmen und Hilfestellungen ganz ohne Hintergedanken lehnt man genervt ab, weil man dahinter doch wieder nur einen Geschäftemacher vermutet. Schade für die ehrlichen Einheimischen und die Touristen, die diese ursprünglich kennenlernen wollten.
Der Autor unternahm im November 2016 für METROPOLEN.DE eine Recherchereise nach Marrakesch.