„Mind the gap!“
Von Hassliebe zur und Verhaltensweisen in der Londoner U-Bahn
Es ist schon eine sonderbare Beziehung, die die Londoner zu ihrer „Tube“ pflegen. Während die älteste U-Bahn der Welt für Touristen ein Kultobjekt ist, ist sie für die Pendler, die täglich oft mehr als 60 Minuten in den überfüllten Stationen und Zügen verbringen, oft nur leidiges Hassobjekt. Und doch steigen jeden Tag wieder über drei Millionen Passagier ein.
Gibt es den keine Alternativen zur „London Underground“, mag der Unbeteiligte ungläubig einwerfen. Natürlich, die gibt es. Nur sind sie keine Lösung. Weil auf Londons Straßen quasi immer Stau herrscht, kann auf Busse und Taxis nur derjenige vertrauen, der Zeit hat. Viel Zeit. Das musste auch Hermann-Josef Lamberti, ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, lernen. Er hat den Erzählungen nach eine wichtige Sitzung in der Londoner Innenstadt verpasst, weil er sich als einziger Teilnehmer mit einem Auto vom Flughafen zum Termin chauffieren ließ. Als Folge steckte er stundenlang im Stau fest.
Wer in London also pünktlich seinen Dienst antreten oder einen Termin wahrnehmen will, der ist auf die Tube angewiesen. Immerhin ist sie es, die ihre Passagiere seit 150 Jahren zuverlässig ans Ziel bringt. Und dafür wiederum lieben die Berufspendler ihre U-Bahn. Nicht auszudenken, was sie ohne sie tun würden. Und so verzeiht man der alten Tante Tube auch, wenn sie dank ihrer veralteten Technik mal wieder im Tunnel stecken bleibt und der Zeitplan ausnahmsweise nicht aufgeht.
Der Preis, den die Passagiere für das verlässlichste Transportmittel der Stadt zahlen, ist hoch. Wer die Tube nimmt, braucht Nerven aus Stahl. Wer in ihr überleben will, der braucht Skrupellosigkeit, Taktik und Weitsicht. Denn wer meint, überfüllte U-Bahnzüge gebe es nur in Tokio, wo hauptberufliche Drücker die Fahrgäste in knüppelvolle Waggons drängen, der irrt. Auch in der Londoner U-Bahn bleibt zu den Hauptverkehrszeiten kein Millimeter ungenutzt. So tummeln sich schonmal sechs Personen auf einem Quadratmeter. Tierschützer wären bereits auf die Barrikaden gegangen. Da stehen aus dem Ei gepellte Banker neben von der Nachtschicht heimkehrenden Fabrikarbeitern, Arbeitslose neben Millionären.
In der Underground spielt der Kontostand keine Rolle. Hier sind alle Menschen gleich. Wenn im Sommer in den Bahnhöfen und Zügen mal wieder über 40 Grad gemessen werden, dann saugt sich das T-Shirt aus der Altkleidersammlung genauso schnell mit Schweiß voll wie das maßgeschneiderte Hemd von der Bond Street. Der erfahrene U-Bahnfahrer geht deshalb nie ohne Deodorant aus dem Haus und kleidet sich sommers wie winters im Zwiebellook. Geduscht wird wenn möglich erst am Arbeitsplatz, alles andere wäre Zeitverschwendung.
Man muss und man kann sich also arrangieren mit den Widrigkeiten, die das Transportmittel U-Bahn in einer Millionenstadt wie London mit sich bringt. Mit unangepassten Touristen hingegen kann sich der Londoner nur schwer abfinden. Wahrscheinlich sind sie das größte Übel der Underground, über dass sich der routiniert Berufspendler bei den Kollegen im Büro täglich als erstes beschwert.
Damit Sie das nächste Mal nicht unangenehm auffallen, wenn sie sich in einen überfüllten Waggon der Tube quetschen, folgen vier gute gemeinte Verhaltensweisen für die Londoner U-Bahn.
1. Klappe halten!
Ob pures Glück oder ausgefeilte Taktik – haben Sie es in die überladene U-Bahn geschafft, dann wäre ein von Erleichterung geprägter Freudenschrei genau die falsche Ausdrucksweise für Ihr kleines Erfolgserlebnis. In der Tube herrscht Ruhe! Niemand spricht. Alle sind vertieft in ihr Buch oder ihre Zeitung, tippen hektisch auf dem Touchscreen ihres neusten Smartphones oder schauen maximal verstohlen durch das Fenster in die Dunkelheit der Londoner Unterwelt. Selbst wenn Sie Ihrer Freude freien Lauf lassen würden, Notiz davon nehmen höchsten ein paar Touristen. Der Brite geht stur seinem Ritual nach oder hat ohnehin Kopfhörer im Ohr. Bitte denken Sie daran, dass diese Regel auch nach zwanzigminütigem Stillstand im Tunnel und bei gleichzeitigem Stromausfall nicht ihre Gültigkeit verliert.
2. Rucksack abnehmen!
Outen Sie sich als informierter und vernünftiger Besucher und nehmen Sie Ihren nutzlos mit Proviant beschwerten Rucksack so schnell wie möglich ab. Wer diesen egoistisch aufgebhält nimmt einem zahlenden Passagier den Platz weg. Tun Sie es dem Engländer gleich und zeigen Sie mit dieser Maßnahme, dass Sie auch in den größten Stresssituationen stets freundlich und zuvorkommend sind. Der beste Platz für Ihren Rucksack ist zwischen Ihren Beinen.
3. Nicht starren!
Zugegeben, es mag kaum einen besseren Ort für ausgedehnte Sozialstudien geben wie die Londoner U-Bahn. Dennoch ist Augenkontakt hier verpönt. Nicht umsonst ist die Decke mit Werbeplakaten zugepflastert. Wer keine eigne Lektüre mitführt studiert unauffällig die oft miserablen Werbebotschaften. Geübte zelebrieren das „ins Leere starren“. Können Sie Ihre neugierigen Blicke nicht verbergen, dann tuen Sie es den übernächtigen Partypeoplen und Workaholics gleich und schließen Sie Ihre Augen. Diese Verhaltensregel bedeutet gleichwohl, dass in der U-Bahn natürlich nicht geflirtet wird.
4. Rechts stehen, links gehen!
Haben Sie Ihre Reise mit dem komplizierten Verkehrsmittel U-Bahn abgeschlossen, vermeiden Sie unbedingt auch das letzte Fettnäpfchen auf dem Weg an die Erdoberfläche. Auf den 426 Rolltreppen der Underground steht man immer rechts, damit Menschen die es eilig haben links überholen können. Auch wenn Sie die allerbeste Freundin, die Sie schon 30 Jahre nicht mehr gesehen haben, vom Bahnsteig abholt, stehen Sie auf der Rolltreppe niemals nebeneinander, sondern immer hintereinander. Als Eselsbrücke für diese Regel rufen Sie sich einfach ins Gedächtnis, wie Sie sich auf einer deutschen Autobahn zu verhalten haben.