Selfies in Auschwitz
Wenn die Selbstdarstellung zu weit geht
Vor wenigen Wochen waren wir im Rahmen einer Recherchereise auch im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das nur wenige Kilometer von Krakau entfernt liegt. Auch wenn Auschwitz alles andere als ein schöner Ort ist, ist die Gedenkstätte eine Sehenswürdigkeit. Eine, die von jährlich 1,5 Millionen Menschen besucht wird. Unter den beinahe im Minutentakt startenden Führungen sind auch etliche Jugendgruppen.
Obwohl wir uns einen ganzen Tag sowohl im Stammlager als auch in Birkenau bewegten, ist es uns nicht aufgefallen. Wir waren zu beschäftigt mit dem Ort und unseren Gedanken. Erst als wir einige Tage später unsere Fotos bei Instagram hochluden und uns die anderer Nutzer anschauten, stellten wir entsetzt fest, wie viele Selfies unter dem Hashtag Auschwitz zu finden sind.
Posieren unter „Arbeit macht frei“
Niemand der eitlen Selbstdarsteller macht sich auch nur die Mühe ein Betroffenheitsgesicht aufzusetzen. Stattdessen posieren sie mehrheitlich gut gelaunt unter dem Schriftzug „Arbeit macht frei“, in den Baracken oder vor der „Schwarzen Wand“. Auschwitz ist kein Einzelfall. Für die nach Bestätigung heischenden Selbstporträtisten scheint keine Kulisse tabu. Beliebt ist zum Beispiel auch das Berliner Stelenfeld, das eigentlich an die jüdischen Opfer des Holocausts erinnern soll.
Ihre Selfies mit Kussmund beweisen, dass sich die Jugendlichen der historischen Bedeutung der Orte nicht bewusst sind. Orte, mit denen unzählige individuelle Leidensgeschichten grausamster Art verbunden sind. Wer sich diese Schicksaale am Ort des Geschehens ins Bewusstsein ruft, dessen Geist ist so beschäftigt, dessen Köper so gelähmt, dessen Seele so bedrückt, dass er eigentlich nicht auf die Idee kommen dürfte nun den Arm auszustrecken – auch nicht für ein Selfie.
Vor einem Jahr machte ein Auschwitz-Selfie weltweit Schlagzeilen, weil eine junge US-Amerikanerin dafür einen Shitstorm erntete. Als wäre es noch nicht genug, dass sie breit lächelnd zwischen den Häftlingsbaracken posierte, hat sie ihren Tweet mit dem Foto gleich noch mit einem Smiley versehen. Im amerikanischen Fernsehen erklärte die Frau, sie habe das Foto in Erinnerung an ihren kürzlich verstorbenen Vater getwittert. Der Holocaust sei sein bevorzugtes Geschichtsthema gewesen.
Selbst wer Verständnis für diese Idee aufbringen kann, der muss sich doch zumindest fragen, warum man ein solches, im Übrigen scheinbar sehr privates, Foto unbedingt veröffentlichen muss. Im besten Fall ist ein solches Selbstporträt unüberlegt. Meist aber zeugen die geschmacklosen Selfies von mangelndem oder übertriebenem Selbstbewusstsein, emotionaler Verkommenheit, beängstigendem Desinteresse und unverzeihlichen Bildungslücken.
Besuch eines Konzentrationslagers nur auf freiwilliger Basis
Vielleicht lässt sich all das einfach unter mangelnder Reife zusammenfassen. Genau deshalb sollte man Jugendliche nicht zu früh mit einem Besuch in einem Konzentrationslager konfrontieren. Nichts desto trotz ist die verändernde Wirkung, die Auschwitz auf alle hat, die sie zulassen, pädagogisch wertvoll. Ein Besuch sollte deshalb jedem ermöglicht werden, der Interesse daran hat. Aber eben nur auf freiwilliger Basis.
Doch auch wenn hinter den unappetitlichen Fotos keine böse Absicht, sondern oft „nur“ Gedankenlosigkeit steht, spiegeln sie die Einstellung einer ganzen Generation wieder. Besonders unappetitlich wird es, wenn die Selfies auch noch mit Hashtags wie #feelgood, #fun oder #happy versehen werden. Natürlich gab es solche Entgleisungen schon vor dem Selfiewahn. Entsprechende Erfahrungen hat jeder aus seiner Schulzeit. Aber erst durch die ungenierte Veröffentlichung der Verfehlungen wird ihr Ausmaß und ihre Skrupellosigkeit deutlich.
Wenn die Führer organisierter Besuchergruppen in Auschwitz mitbekommen, dass Selfies gemacht werden, dann schritten sie in der Regel ein, so ein Sprecher der Gedenkstätte. Doch unter Millionen Touristen wird es immer Idioten geben, die nicht nachdenken, bevor sie handeln. Freilich nicht nur Jugendliche, aber vor allem sie. Auschwitz ist keine makabrere Touristenattraktion. Auschwitz ist ein Ort der Mahnung und Verantwortung. Auschwitz ist ein Massengrab. Entsprechend angemessen sollte man sich hier verhalten.
Noch mehr als ein taktloses Selfie schmerzt nur, wenn man in den geöffnete Bracken sieht, wie sich Pubertierende mit Edding und Taschenmesser in dem Originalmaterial verewigt haben, das von unzähligen Freiwilligen gepflegt wird, damit es der Nachwelt noch möglichst lange im Original erhalten bleibt.