Digitale Gesellschaft
Warum Stadtführer aus Fleisch und Blut nicht ausgedient haben
Wenn es heute darum geht, sich für einen Urlaubsort zu entscheiden, dann ist das Internet schon lange die wichtigste Entscheidungshilfe. Hier wird sich nicht nur informiert, hier wird auch gleich gebucht. Nicht nur das Hotel, sondern auch ein Tisch im Restaurant und ein Sitzplatz im Theater. Und auch im Urlaub selbst geht es nicht ohne Laptop, Smartphone oder Tablet. Gern auch in Kombination.
Noch bevor wir schauen, was das Hotel kostet, checken wir ob es kostenloses WLAN gibt und wie vorherige Bewohner die Empfangsqualität bewerten. Ist die Bleibe diesbezüglich geprüft, werden die öffentlichen Hotspots lokalisiert. Welche Auslandsoptionen bietet der Mobilfunkbetreiber? Immer im Netz, das ist das Ziel.
Und das hat auch seinen guten Grund. Im Handumdrehen spuckt uns Google die Geschichte der Kirche aus, vor der wir gerade stehen. Das Smartphone navigiert uns zur nächsten Sehenswürdigkeit. Eine App zeigt die Bars in der Umgebung an. Dank des Internets und den moderneren mobilen Endgeräten bleiben auf Reisen keine Fragen mehr offen.
Eine Führung ist nur so gut, wie sein Führer
So mancher erklärt deshalb nicht nur die Postkarte zum Relikt vergangener Zeit, sondern ist auch der Meinung, dass der Fremdenführer ein vom Aussterben bedrohter Beruf ist. Nachdem wir für die Postkarte bereits in die Bresche gesprungen sind, gilt es nun die Existenz der Stadtführer zu verteidigen. Das ausgerechnet wir das tun, ein Online-Reiseführer, ist kein Widerspruch.
Ein Reiseführer, ganz gleich ob digital oder gedruckt, hat viele Vorteile. Mit ihm kann man sich vor und während der Reise ausführlich über das Ziel informieren. Nicht wenige nutzen ihn sogar zur Nachbereitung. Reiseführer können nicht nur aus harten Fakten, sondern auch aus Anekdoten und Erfahrungen bestehen. Gute Autoren bringen diese in geschriebenen Worten genauso humorvoll und lebhaft rüber, wie es viele Fremdenführer tun.
Dennoch lohnt es sich in einer unbekannten Stadt nicht nur den Reiseführer zu konsultieren, sondern sich auch mal Zeit für eine geführte Tour zu nehmen. Anders als der Reiseführer, der eine möglichst breite Zielgruppe abdecken muss, hat ein Stadtführer nämlich die Möglichkeit auf seine Gruppe einzugehen. Merkt er, dass sie sich für Kunstgeschichte oder Politik interessieren, verstärkt er diese Inhalte. Diese Flexibilität fehlt der App, dem Buch und dem Internetportal. Wenngleich es zu jedem Schwerpunkt natürlich auch spezielle Reiseführer gibt. Nichtsdestotrotz sind eben auch viele Stadtführer wandelnde Lexika. Gezielte Fragen beantworten sie meist schneller, als man sie ins Handy tippen kann.
Wer sich für eine Stadtführung entscheidet, der hat an die menschliche Informationsquelle aber oft ganz andere Erwartungen als an eine analoge oder digitale. Kaum jemand merkt sich die Jahreszahlen, die einem der Fremdenführer vorbetet. Stadtführungen dienen meistens dazu, sich einen ersten Überblick über die Stadt und ihre wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu verschaffen. Wurde dabei tiefergehendes Interesse für die eine oder andere Attraktion geweckt, so sucht man sie im Verlauf des Urlaubs nochmal auf und informiert sich mit Hilfe des Reiseführers umfassender.
Wenn die Stadtführung selbst zur Attraktion wird
Was von einer Stadtführung in Erinnerung bleibt, das sind die Erlebnisse, Geschichten und Tipps, die der Führer preisgibt. Und genau das sind seine Stärken. Weil er bestenfalls seit Jahren in der Stadt lebt, hat der Fremdenführer viel erfahren und erlebt. Es ist eben etwas anderes, als wenn man nur erzählen kann, dass in diesem Schloss die Königin wohnt, als wenn man sogar von einer persönlichen Begegnung mit ihr berichten kann.
Spricht der Stadtführer in Köln dann auch noch mit passendem Dialekt oder versprüht sein Kollege in Wien den gewissen Schmäh, dann wird die Stadtführung selbst zur Attraktion. Nirgendwo kann man das derzeit besser beobachten als auf St. Pauli, wo Prominente sich bei allabendlichen Kiezführungen mittlerweile mächtig Konkurrenz machen.
Einer der Gründe, warum diese nicht gerade günstigen aber dafür umso witzigeren Touren in Hamburg so gut ankommen, ist ihr individueller Charakter. Die selbst erlebten Stories von einst kriminellen Kiezgrößen wie Inkasso-Henry oder Kalle Schwensen kann man eben nirgendwo lesen, die muss man sich erzählen lassen. Erzählen lassen von den Menschen, die eine Metropole genauso ausmachen wie seine Gastronomie oder seine Sehenswürdigkeiten.