Pro und Kontra
EM-Boykott in der Ukraine?
Der Fall Julija Timoschenko steht wie kein anderer für den zweifelhaften Umgang mit Menschenrechten in der Ukraine. Sowohl die Verhaftung nach Verlust ihres Regierungsamtes als auch die Haftbedingungen stehen seit langem in der Kritik. Durch die in genau vier Wochen in Polen und der Ukraine stattfindenden Fußball-Europameisterschaft rückt die internationale Kritik stärker in den Fokus der Medien. So ist es nicht verwunderlich, dass der Druck auf die Ukraine wächst. In den vergangenen Tagen haben immer mehr Politiker aus Protest gegen die Behandlung von Oppositionsführerin Timoschenko ihre Teilnahme an dem europaweiten Fußballereignis abgesagt. Nun wird der Ruf nach einem Boykott der in der Ukraine geplanten Spiele laut.
Was spricht für einen Boykott?
Befürworter des ukrainischen EM-Boykotts wollen mit der radikalen Maßnahme ihren Protest gegen die Regierung in Kiew zum Ausdruck bringen. Die Fußball-Europameisterschaft bietet eine gute Gelegenheit, ein deutliches Signal gegen die Regierung Janukowitsch zu setzen, die zum Beispiel auch die Presse zensiert.
Während erste Stimmen die Verlegung aller in der Ukraine geplanten Spiele nach Polen oder sogar nach Deutschland fordern, sprechen sich die meisten Politiker nicht für einen sportlichen Boykott aus. Allerdings sollten Politiker dem Ereignis fernbleiben, damit das diktatorische Regime keine Aufwertung erfahre. Denn wenn sich Mitglieder der Bundesregierung oder gar die Bundeskanzlerin neben Janukowitsch oder dessen Hintersassen auf der Stadiontribüne zeigen, dann ist das nicht nur eine Unterstützung für die Sportler, sondern auch eine Hofierung der herrschenden Regierung.
Bundespräsident Joachim Gauck war der erste deutsche Politiker, der einen Staatsbesuch in der Ukraine absagte. Weil ihm viele andere Präsidenten und Staatschefs folgten, musste die Ukraine eine in Jalta geplante Konferenz auf unbestimmte Zeit verschieben. Eine Maßnahme, die für mediale Aufmerksamkeit gesorgt hat. Ähnliches soll auch ein Boykott der Europameisterschaft zum Ziel haben.
Die meisten der Boykottbefürworter wollen aber nicht nur, dass die Politiker ein Zeichen setzen, sondern auch das Volk. Während das Fernbleiben von Staatsdienern schon fast zum guten Ton zählt, würden abwesende Besucher den Protest ihrer Regierungen nachdrücklich stärken.
Weil eitle Machthaber die Öffentlichkeit lieben und sie für ihre Inszenierung nutzen, wird von einigen Kritikern der Ukraine auch ein kompromissloser Boykott gefordert. Ein totaler Boykott, der auch von der UEFA und ihren Anhängern mitgetragen wird, wäre ein großer Misserfolg für Wiktor Janukowytsch. Fraglich jedoch, ob dieser Niederschlag auch etwas an der Situation des Landes ändern würde.
Politik und Sport isoliert voneinander zu betrachten wäre jedoch zu einfach. Das zeigt das Beispiel der Formel 1. Während die Teams im April 2012 in Bahrain ihre Runden drehten, wurde die Opposition blutigste niedergeknüppelt. Eine durch und durch unwürdige Veranstaltung, deren einzige Alternative der Boykott gewesen wäre.
Was spricht gegen einen Boykott?
Eine Absage der ukrainischen Spiele würde allen voran den Fußballern und ihren Fans sowie dem ukrainischen Volk schaden. Zwar würde dadurch kurzfristig eine mediale Aufmerksamkeit für die Gründe des Boykotts geschaffen, doch das Medieninteresse würde schnell nachlassen. Anders wär es, wenn die EM wie geplant stattfindet und das Land fast einen Monat im Fokus der Öffentlichkeit steht. Genügend Zeit, sich auch mit der politischen Situation der Ukraine zu beschäftigen. Schließlich werden die Vorkommnisse in der Ukraine erst durch das bevorstehende Sportereignis so breit in der Öffentlichkeit diskutiert.
Das Sportboykotte wenig bringen, haben auch die Versuche in der Vergangenheit gezeigt. Als viele westliche Staaten, darunter auch Deutschland, den Olympischen Spielen 1980 in Moskau fernblieben, haben sich die Sowjettruppen nicht aus Afghanistan zurückgezogen. Auch die Retourkutsche vier Jahre später in Los Angeles, als die Ostblockstaaten durch Abwesenheit glänzten, hatte keine politischen Auswirkungen. Am Ende litten immer nur die Athleten.
Wer erinnert sich noch an die zaghaften Rufe nach Menschenrechten in China, als Peking 2008 die Olympischen Spiele ausrichtete? Geblieben ist einzig die glanzvolle Erinnerung an den sportlichen Wettbewerb.
Ohne die Fußball-Europameisterschaft würde sich ohnehin niemand für die Verhältnisse in der Ukraine interessieren. Dies zeigt alleine schon die Tatsache, dass sich ausgerechnet jetzt hochrangige Politiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso zu dieser Angelegenheit äußern.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht sich gänzlich gegen einen Boykott aus. Sie ist der Meinung, dass Politiker und Sportfunktionäre vor Ort auf die Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen müssen. Die Fußball-Europameisterschaft schafft eine internationale Bühne, auf der auch die Sportler Zeichen setzen können. Doch bei einem Boykott wäre diese Bühne leer.
Fazit
Die höchstmögliche Aufmerksamkeit kann der Ukraine und damit auch den dortigen Menschenrechtsverletzungen nur dann geschenkt werden, wenn die Fußball-Europameisterschaft wie geplant stattfindet. Deutliche Zeichen gegen den Kurs der Regierung sind jedoch unabdingbar. Deshalb ist es wichtig, dass Politiker sich durch ihr Fernbleiben positionieren. Die Fußballer und ihre Fans sollten jedoch nicht zu Leidtragenden der ukrainischen Regierung gemacht werden. Dies hätte auch das ukrainische Volk, das schließlich nicht uneingeschränkt mit ihrem Präsidenten sympathisiert, nicht verdient. Verknüpfen wir das Angenehme mit dem Wichtigen. Erfreuen wir uns an den Spielen und nutzen wir die Gelegenheit ein Regime zu tadeln.
kommentierte am 13. Mai 2012 um 20:07 Uhr Uhr
eine unverschämtheit, dass polnische volk so vor den kopf zu stoßen und beide länder in einen topf zu werfen, indem man die gesamte em boykottiert. dass der beitrag genauso wie 99% aller beiträge zu dem thema dies nicht erwähnt entspricht der deutschen ignoranz (oder arroganz?)…
kommentierte am 13. Mai 2012 um 20:45 Uhr Uhr
Liebe/-r Remi,
in diesem Artikel geht es ausschließlich um einen Boykott der EM-Spiele, die in der Ukraine stattfinden („EM-Boykott in der Ukraine?“, „Befürworter des ukrainischen EM-Boykotts …“, „Eine Absage der ukrainischen Spiele würde …“, etc.). Über einen Boykott der gesamten Fußball-Europameisterschaft, also auch der in Polen stattfindenden Spiele, wurde hierzulande nie diskutiert. Außerdem ist festzustellen, dass die Boykottdiskussion äußerst differenziert geführt wird. So spricht sich kaum jemand für einen sportlichen Boykott aus, der möglicherweise auch Polen schaden könnte. Es gibt weder Kritik an der polnischen Politik noch die ernsthafte Befürchtung, dass Polen seiner Aufgabe im Zusammenhang mit der EM nicht gewachsen ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Polen die Chance nutzen wird sich vorteilhaft zu präsentieren und sein internationales Ansehen dadurch zu stärken.