East Side Gallery in Berlin
Wenn Kapitalismus Geschichte, Kultur und Kunst verdrängt
Als sie noch die Stadt trennte, war die Mauer allgegenwärtig. Heute, fast 25 Jahre nach ihrer Öffnung und über 50 Jahre nachdem mit dem Bau der Berliner Mauer begonnen wurde, ist kaum noch etwas von der historischen Barriere übrig. Die Mauer, die Berlin 28 Jahre lang auf einer Länge von 160 Kilometern teilte, ist zur Sehenswürdigkeit geworden. Dort, wo die letzten wenigen Betonfragmente zu sehen sind, tummeln sich Touristen aus aller Welt.
Um das längste noch erhaltene Stück Berliner Mauer, die berühmte East Side Gallery in Berlin-Friedrichshain, ist einmal mehr ein Streit entbrannt. Ein Teil der 1990 von über 100 Künstlern aus aller Welt bemalt Betonmauer soll offiziell für den Anschluss der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Brommybrücke weihen, die vermutlich 2014 wieder aufgebaut wird. Nicht wenige jedoch sind davon überzeugt, dass der Bau eines Wohnturms mit teuren Luxuswohnungen an gleicher Stelle der wahre Grund für den Lückenriss ist.
Am gestrigen Freitag wurde damit begonnen, insgesamt 19 etwa 1,20 Meter breiten Mauersegmente zu entfernen. Anders als aufgeregte Medienberichte vermuten ließen, sollen diese Bruchstücke wenige Meter entfernt wieder aufgestellt werden. Dennoch war die Empörung nach Bekanntwerden der Pläne groß. Spontan versammelten sich am Freitag mehrere hundert Protestler in der Mühlenstraße, darunter auch einige Künstler, die die Mauer zum zeitgenössischen Kunstwerk machten. Nicht einmal Erich Honecker hätte sich erträumt, dass Rufe wie „Diese Mauer muss stehen bleiben!“ einmal durch Berlin schallen. Überrascht vom spontanen Protest, der sich trotz Verschweigen des Arbeitsbeginns schnell formierte, wurden die Arbeiten am Freitag eingestellt, nicht ohne auf die Vokabel „vorläufig“ zu verweisen. Zuletzt heute bekräftigte der Investor des „Living Levels“ getauften Hochhauses seine Absicht, die genehmigte Mauerverschiebung durchzuziehen.
Mit der Verschiebung von Geschichte hat Berlin Erfahrung. Noch nie waren die verantwortlichen Hauptstädter zimperlich dabei, Platz für Neues zu schaffen. Ob Neptunbrunnen, Siegessäule oder die Überreste des ehemaligen Grand Hotels Esplanade im Sony Center – sie alle stehen nicht mehr an ihrem ursprünglichen Standort. Immerhin ist ihnen nicht das gleiche Schicksaal wie der Berliner Altstadt zuteilgeworden. Selbst vom Krieg verschonte Gebäude wurden damals niedergerissen. Das Gelände lag Jahrzehnte brach, bis einst unüberlegt Abgerissenes aufwendig rekonstruiert wurden und heute das Nikolaiviertel bildet. Ähnliche Beispiele gibt es viele in der Hauptstadt, man erinnere sich nur an den vor gar nicht allzu langer Zeit abgerissenen Palast der Republik oder die Räumung des Tacheles.
Die nun aufgrund der Misshandlung der East Side Gallery laut werdenden Proteste sind Ausdruck eines neuen Umgangs mit der Vergangenheit und ihren Überresten. Der durch ungeliebte oder zumindest missglückte Großprojekte geschulte Widerspruchsbürger begehrt auf gegen die Zerstörung der letzten originalen Gedenk- und Nachdenkstätten, die es noch gibt. Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass an der East Side Gallery gesägt wird. Schon seit langem klaffen großen Lücken in der Betonwand, die zum Beispiel zugunsten der benachbarten O2 World entstanden. Dabei steht die Mauergalerie seit 1991 unter Denkmalschutz. Ein Schutz ohne Wert.
Es ist weder die Aufgabe einer Stadt wie Berlin die im Stadtbild verankerte Historie zu konservieren, noch Moderne oder Zukunft zu verhindern. Doch Geschichte in Bücher und Museen zu verbannen ist genauso falsch wie radikales Verdrängen. Um an Geschichte zu erinnern und auch um sie zu vermitteln bedarf es authentischer Orte. Orte, die sich in unserem Alltag wiederfinden. Die East Side Gallery ist ein lebendiger Ort, der von einem der wichtigsten Kapitel deutscher Geschichte erzählt. Sie ist kulturelles Erbe, das bewahrt werden muss. Wahrscheinlich aber erinnern wir uns erst in fernen Jahren wieder daran, welchen unschätzbaren Wert der billige Beton hatte. Und dann nehmen wir wieder viel Geld in die Hand um einen zugleich historischen, kulturellen und künstlerischen Ort zu rekonstruieren. So wie beim Berliner Stadtschloss, in das zukünftig über eine Milliarde Euro investiert werden sollen.